Die Herausforderung, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 ergibt, kann für den Gesetzgeber wie auch für die Gesellschaft eine Chance bedeuten und eine Wende markieren. In der laufenden Diskussion müssen nicht nur die klaren Prioritäten zugunsten des Lebensschutzes benannt werden, sondern es könnte auch der komplexe Prozess der Begleitung am Lebensende insgesamt endlich stärker ins Blickfeld rücken.
Medizinische Maßnahmen, die einer dauerhaften, professionellen und auf würdiges Sterben ausgerichteten Begleitung am Lebensende dienen, brauchen damit auch eine finanzielle Förderung mit dem Ziel besserer Ausgestaltung.
Die Palliativmedizin muss unbedingt flächendeckend gestärkt werden. Ebenso müssen Einrichtungen der psychologischen und psychotherapeutischen Begleitung Suizidwilliger dringend ausgebaut werden. Die individuell menschlich zugewandte Beratung und Begleitung darf nicht vom Wohnort oder von der jeweiligen Gesundheitseinrichtung abhängen. Zusätzliche Beratungsleistungen und deren Finanzierung gilt es im Gesetzgebungsverfahren entsprechend finanziell abzusichern und die Finanzierungszusagen der Bundesländer einzuholen.
Kranke und schwerkranke Menschen brauchen die beste Versorgung – von dieser Notwendigkeit hängt die Qualität des Sozialstaats ab. Mit Blick auf die Gesetzgebung bedeutet „gute Versorgung“ schließlich auch, dass Beratungsstrukturen aufgebaut und institutionalisiert werden, die auf die Komplexität individueller Lebens- und Krankheitsgeschichten eingehen können.
Das Kolpingwerk Deutschland stellt sich erneut gegen eine drohende Kommerzialisierung und gegen geschäftsmäßige Formen des assistierten Suizids, die die reale Gefahr einer gesellschaftlichen Diskursverschiebung offenbaren. Weder darf die Suizidassistenz zu einem normalen Handlungs- und Behandlungsangebot werden noch darf es zu Repressionsszenarien kommen, indem Menschen aufgrund eines in der Öffentlichkeit entstehenden Drucks aus dem Leben scheiden möchten. Keinesfalls dürfen Einrichtungen, die sich auf der Basis ihrer zentralen Werte explizit gegen den assistierten Suizid aussprechen, unter Druck geraten.
Gesellschaftlich verheerend wäre es, wenn Versorgungslücken in der Pflege oder die Überforderung im Gesundheitssystem dafür sorgen, dass Menschen keine anderen Auswege sehen. Hier waren die Erfahrungen während der Corona-Pandemie vielerorts schon eine mahnende Drohkulisse.
Mit der Prioritätensetzung verbindet das Kolpingwerk Deutschland gleichwohl die Erkenntnis, dass es Grenzsituationen gibt, in denen das letzte Recht des Menschen, sterben zu dürfen sowie die zuweilen tragische Angst vor einem qualvollen Tod es gebieten, im Einzelfall die Unterstützung des Suizids zu ermöglichen. Wichtig erscheint uns, dass der Entschluss dazu aus freiem Willen getroffen wird und nicht einmal für das ganze Leben gefasst werden kann, sondern immer wieder neu gefasst werden muss. Deswegen erscheint es uns als richtig, dass nur im Zeitraum zwischen 3 Wochen bis 12 Wochen nach einer Beratung durch den Arzt tödliche Medikamente verschrieben werden dürfen.
In der Diskussion um die Reform der Sterbehilfe geht es um zentrale Werte der Gesellschaft, um die Menschenwürde und um echte karitative Zuwendung. Der Diskurs über diesen letzten Schritt einer zugewandten Begleitung muss berücksichtigen, dass auch die inzwischen ausgebaute Palliativmedizin den schmerzvollen Tod nicht beseitigen oder ausschließen kann.
Auch aus diesem Grund soll die Palliativmedizin gerade in ihrer interdisziplinären Ausrichtung jedoch weiter umfassend ausgebaut werden. Das Kolpingwerk begrüßt es ausdrücklich, dass hier auch die Seelsorge und die Soziale Arbeit einen maßgeblichen Anteil haben. Sie tragen mit zu einer auf das Individuum und dessen Situation fokussierten Begleitung bei, die wiederum für die gesamte Diskussion über den assistierten Suizid unerlässlicher Maßstab ist.
Der Bundesvorstand des Kolpingwerkes Deutschland
Köln, den 24. Juni 2023
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Foto: Kolpingwerk Deutschland/Frederike Nehrkorn