In kleinen Schritten etwas bewegen

Wanderungen, Wallfahrten, Bildungsveranstaltungen und Sozialprojekte: In einer Stadt, wo viele ihre Nachbarn nicht kennen, bietet die Kolpingsfamilie Leipzig-Schönefeld Alternativen an: Glaube, Gemeinschaft und Hilfe für die Nächsten.

Mal überlegen. Bei "Leipzig" fällt einem ein: Leipziger Allerlei, Leipziger Buchmesse, Leipziger Schule, Leipziger Gewandhausorchester. Dann die berühmten Köpfe, die dort geboren wurden oder gewirkt haben: Max Beckmann, Richard Wagner, Johann Sebastian Bach, Werner Heisenberg. Historisch ist unter anderem zu nennen die Völkerschlacht bei Leipzig und in der neueren Geschichte die Leipziger Montagsdemonstrationen mit seinen "Wir sind das Volk"-Parolen, die das Ende der SED-Herrschaft einläuteten. Über Leipzig ist damit freilich noch längst nicht alles erzählt. Viele Künstler sind inzwischen hierhergezogen, das Leben ist hier billig, billiger inzwischen als in der Bundeshauptstadt, manche nennen Leipzig das "neue Berlin". In dieser großen Stadt mit seinen knapp 545.000 Einwohnern ist also viel in Bewegung. Es gibt viele, viele Angebote, vielleicht zu viele. Vielleicht werden sie deshalb nicht so richtig wahrgenommen, die hier ansässigen Kolpingsfamilien, vielleicht gehen sie deshalb, wie man so sagt, unter. Zwei der insgesamt acht Kolpingsfamilien in Leipzig und Umgebung haben sich inzwischen aufgelöst, zwei wurden zusammengelegt, weitere Fusionen stehen bevor.

Wer kennt schon seinen Nachbarn?

Bei der Kolpingsfamilie Leipzig-Schönefeld hofft man, wie der Vorsitzende Jürgen Kaufmann sagt, "dass es irgendwie weitergeht". An der nordöstlich gelegenen Ossietzkystraße liegt das Gemeindezentrum der katholischen Pfarrei Heilige Familie. In dessen Räumen sind auch die Kolpinger beheimatet. Der Jugendraum steht leer, weil keine Jugend da ist. Er ist inzwischen an eine vietnamesische katholische Gemeinde vermietet, die dort ihre Gottesdienste feiert. "Nach der Wende mussten wir viel lernen, plötzlich sah das Leben anders aus", erzählt Jürgen. Mit einem Mal die vielen Angebote, besonders für die Jugendlichen. Neues ist aufregend, Neues macht neugierig. Es erscheint schillernder als das Altbekannte. Die Kolpingsfamilien waren mit der Frage konfrontiert: Sind wir noch interessant genug? Zwar habe man, wie Jürgen erzählt, in der Zeit nach der Wende, 1992, um die 15 Jugendliche aufgenommen, aber es sei nicht gelungen, sie nachhaltig zu begeistern und zu halten. Erzwingen könne man es ja nicht, und wolle es auch nicht. Kolping, sagt Jürgen, sei "ein Programm drin im Herzen".

Was aber, wenn das Herz schon voll ist und der Kopf voll ist und für Kolping keine Zeit? "Wenn mir etwas wichtig ist, dann nehme ich mir die Zeit", meint Jürgen. Ist Kolping demnach vielen nicht wichtig genug? Jürgen glaubt, die Ursachen liegen woanders. Dass sich niemand mehr binden wolle, dass jeder kommt, wann es ihm gefällt, sei ja ein allgemeines Problem in ganz Deutschland, nicht nur hier. Ein anderes allgemeines Problem ist, vor allem in den Großstädten, der Zerfall von Gemeinschaften und die zunehmende Vereinsamung. "Bei uns in Leipzig ist das auch nicht anders, wer kennt schon seinen Nachbarn", sagt Kolpingschwester Irmgard Maciejewski. Gerade deshalb sei es wichtig zu zeigen, dass es noch Menschen gibt, die aufeinander schauen, die Gemeinschaft leben, denen es nicht egal ist, wie es dem anderen geht. "Ich glaube daran, dass wir, wenn auch mit ganz kleinen Schritten, etwas bewegen können in dieser großen Stadt Leipzig", sagt sie. Man sei hier zwar nicht besonders kirchenfreundlich, hier in der klassischen Diaspora, aber ab und zu zeige sich doch ein gewisses Interesse. Besonders die Kolping-Plakette auf dem Auto mache neugierig. Leute würden fragen, sag mal, was bedeutet das große K. "Damit fallen wir auf", sagt Irmgard. Und wer dann mehr über Kolping wissen wolle, der erfahre auch mehr. "Wir müssen die Idee Kolping weitertragen." Was wäre man auch für eine Familie, wenn man in Zeiten der Talfahrt nicht zusammenhalte. Eben.

Gott verlässt uns nicht

48 Mitglieder hat die Kolpingsfamilie Leipzig-Schönefeld momentan, 1998, zum 40. Jubiläumsjahr, gab es einen Höchststand von 69 Mitgliedern. Der Altersdurchschnitt liegt aktuell bei 63,5 Jahren. Dass keine Jugendlichen dabei sind, sei, so Jürgen, nicht nur bei Kolping so, sondern ein Spiegel der Gemeinde, in der die Jugendlichen ebenfalls fehlen würden. Möglich, dass sich demnächst etwas ändert, denn die Gemeinde Heilige Familie wird durch die Zusammenlegung mit drei anderen Pfarreien im nächsten Jahr eine größere, sie heißt dann Pfarrei Leipzig-Ost. Irmgard hofft, dass dann viele junge Familien eine Chance erkennen, sich an eine Gemeinde anzuschließen, dass sie endlich weg wollen vom großstädtischen Einzelkämpfertum. Und wenn nicht? "Es muss Visionen geben", sagt Irmgard mit entschlossener Stimme.

Ehemann Manfred Maciejewski wäre ohne eine Vision gar nicht erst losgegangen. Vor sechzig Jahren bekam er den Auftrag, eine Kolpingsfamilie zu gründen. Der Pfarrer sagte damals: "Suche dir ein paar zusammen, von denen du meinst, es könnte was werden." Am 6.Dezember 1958 waren 14 Jungmänner gefunden, am nächsten Tag, beim Gottesdienst, fehlten jedoch zwei – und kamen nie wieder. "Ich fühlte mich dafür verantwortlich und habe das lange mit mir herumgetragen", erzählt Manfred. Aber es sei ja weitergegangen und tue es noch. Man feiert Geburtstage und traditionelle Feste zusammen, man macht Wanderungen und Wallfahrten, man trifft sich zu Gottesdiensten und Andachten, man engagiert sich mit zahlreichen sozialen Projekten etwa mit Geldspenden für die "Leipziger Oase", eine Tageseinrichtung für wohnungslose Menschen, die beispielsweise eingenommen werden konnten durch ein eigens nach dem Sonntagsgottesdienst angebotenes Suppenessen – acht Suppen, pro Teller zwei Euro. Um die Bedürftigen zu unterstützen, ernten Kolpingmitglieder Streuobst, das sonst verkommen würde, ab und produzieren daraus einen biologischen Apfelsaft regionaler Herkunft.

Und man sorgt als Mitglied der Katholischen Erwachsenenbildung Sachsen dafür, dass die Bildung im Programm nicht zu kurz kommt. Und man stellt sich in Gesprächen den "Zeichen der Zeit", wie etwa Mitte Juni beim Kolpingabend mit Präses Michael Teuber zu dem Thema "Katholische Kirche im Spannungsfeld". Um in diesem Spannungsfeld zu bestehen, haben die Kolpinger in Leipzig-Schönefeld einander. "Unser Zusammenhalt gibt uns Kraft", sagt Schriftführer Arnold Michl. Die größte Kraft aber gebe der gemeinsame Glaube. "Wir wissen, Gott verlässt uns nicht", so Arnold weiter. "Ja, das wissen wir", bekräftigt Irmgard.

Die Kolpingsfamilie Leipzig-Schönefeld hat 48 Mitglieder. Sie gehört zum Diözesanverband Dresden-Meißen. Dem Diözesanverband gehören insgesamt 26 Kolpingsfamilien an, in denen es 994 Mitglieder gibt.

Text: Sylvie-Sophie Schindler
Fotos: Kolpingsfamilie Leipzig-Schönefeld


Dieser Beitrag ist auch erschienen im Bildband "So sind wir! 27 Einblicke in Kolpingsfamilien vor Ort", 192 Seiten, Format: 19 x 25,5 cm, Artikel-Nr: 1027, Preis: 12,95 EUR.