Eindrucksvolle Geschichte bildet auch eine Verpflichtung

Im schwäbischen Höchstädt hat sich der Wandel vom Gesellenverein zum modernen Mitgliedsverband elementar ausgewirkt: Die Kolpingsfamilie wuchs von 40 auf 302 Mitglieder. Seit 150 Jahren gehört das Theaterspiel dazu.

Die Zeitung berichtet, im Dorf kennt man tagelang kein anderes Thema. "Dao hoa i jazt grad gleasa, dass dr Gsöllaverei wieder a Theater schpielt", heißt es im schwäbischen Höchstädt. Der Gesellenverein spielt Theater, wir gehen hin, geht ihr auch, so spricht man morgens beim Bäcker, mittags beim Metzger, abends beim Abendessen. Kaum einer will sich die Aufführung von "Der Freischütz" entgehen lassen. Manche sagen, es sei ein Jägerstück, andere meinen, sie hätten gehört, "was Romantisches", wieder andere wissen, "und die singen auch". Und man ist sich einig: "Dös gug i mir scho au a." Die Frau des Stadtförsters, der Amtsrichter, der Bergwirt, auch sie sitzen im Publikum, als der Vorhang aufgeht und eine Stimme aus dem Dunkel tönt: "Samiel, Samiel, erscheine." Und Samiel, ein Geist, tritt auf, mit gewaltigem Blitzen und Donnern. Die Kinder, die im Publikum sitzen, erschrecken. Es ist die Art von wohligem Schrecken, wie man ihn kennt, wenn es gruselig wird im Märchen. Der große Schrecken, der Schrecken, für den man keine Worte hat, ist erst seit einem knappen Jahr vorbei. Man schreibt den 16. November 1919.

2.200 Zuschauer pro Saison

In Höchstädt, gelegen im Landkreis Dillingen an der Donau, spielen die Kolpinger immer noch Theater. Das nächste Mal Ende Oktober, Anfang November 2018. Und immer noch sagen die Leute, kaum fällt der Vorhang: "Das war ein super Theaterstück, ich komme nächstes Jahr ganz bestimmt wieder." Die Aufführungen der Kolpingbühne haben seit 1870 Tradition, die einzige Unterbrechung brachten die Kriegsjahre. Von Anfang an war das Interesse groß, die Kritiken mitunter hymnisch wie 1906, als geschrieben wurde, "alles bisher auf der hiesigen Dilettantenbühne Aufgeführte wurde weit übertroffen". Inzwischen schauen um die 2.200 Menschen pro Saison zu. Welches Stück es dieses Mal zu sehen gibt, weiß Roland Kehrle noch nicht genau. Er weiß nur: "Zum Lachen soll es sein." Roland führt seit 23 Jahren Regie. Er sitzt, es ist ein Montag Anfang Juni, in der Abendsonne, die sich über den Pfarrhof ausbreitet, er trinkt ein Bier, er wirkt wie jemand, der sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt. Einmal, erzählt er, habe er mit 47 Spielern inszeniert, und mit 15 Leuten hinter und unter der Bühne, das sei schon ein Gewaltakt gewesen. Gezeigt wurde damals das historische Stück "1704, Liebe, Hass und große Schlachten" anlässlich des 300-jährigen Gedenkens an die Schlacht bei Höchstädt/Blindheim. "Das war ein ernstes Stück, ganz ungewohnt, aber auch das hat den Leuten gefallen", sagt er.

Wenn Roland in der Stadt unterwegs ist, wird er oft wegen des Theaters angesprochen. "Man kann sagen, dadurch hat unsere Kolpingsfamilie eine große, wahrscheinlich die größte Außenwirkung." Nach einer kurzen Pause, nach einem nächsten Schluck Bier, fügt er an: "Wen gibt es schon, der uns nicht kennt; wir gehören einfach zu Höchstädt dazu." Wer auf der Bühne steht, der hat natürlich seinen Bekanntheitsgrad. Wie Franziska Radinger, die alle Franzi nennen. Ich habe dich gesehen, sagen die Leute, und meinen, ich habe im Publikum gesessen. Nur einmal zog eine ältere Frau es andersherum auf und sagte: "Haben Sie mich nicht gesehen, ich war im Theater?" Franzi lacht. Seit sie studiert, ist sie nicht mehr so oft in ihrer Heimatgemeinde. "Gut, dass ich die Kolpingbühne habe, noch ein Grund mehr, nach Hause zu kommen", sagt sie. Und was, wenn es die Kolpingsfamilie nicht gäbe? Franzi schaut als wäre diese Frage nun wirklich keine Frage, die beantwortet werden muss. "Kann ich mir nicht vorstellen", sagt sie.

Stetig wachsende Mitgliederzahl

Es beginnt im Jahr 1867. Zwei Jahre nach Adolph Kolpings Tod. Das Jahr, in dem Karl Marx den ersten Band von "Das Kapital" veröffentlicht, Robert William Thomson den Vollgummireifen erfindet, die durchgehende Eisenbahnlinie von Königsberg nach Sankt Petersburg eröffnet und Otto von Bismarck zum Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes ernannt wird. In Höchstädt entscheidet sich ein Buchbindergeselle, der bereits dem katholischen Gesellenverein angehört, andere Gesellen anzusprechen, ob sie sich vorstellen können, sich auch hier zusammenzutun. "Dreißig Gesellen ersuchten den Hochwürdigen Herrn Stadtpfarrer Aulinger um die Erlaubnis, einen katholischen Gesellenverein gründen zu dürfen", wird später in der Chronik nachzulesen sein. Sie kommen am 7. Juli im Gasthof "Zum Greifen" zusammen. Mit 63 Mitgliedern geht es los und pendelt sich in den Folgejahren auf um die 40 ein. Anfangs und ausschließlich in den Wintermonaten werden die Gesellen in Geographie, in schriftlichen Aufsätzen und im Gesang unterrichtet.

Um auf sie, wie Präses Karl Peterzelka selbst schreibt, weiter "bildend und veredelnd" einzuwirken, werden zusätzliche wöchentliche Unterrichtsstunden in Stenographie, Buchhaltung und dem neuen metrischen Maß- und Gewichtssystem angeboten. Denn, so der Präses weiter, man könne den Gesellen Religion und Sittlichkeit nicht auf der Bierbank "eintrichtern"; den Predigtbesuch würden sie vernachlässigen. Auch ein gutes Jahrhundert später, in den späten 1970-er und frühen 1980-er Jahren, sitzt man gerne in der Kneipe zusammen, man spielt Schafkopfen, man schaut Fußball. Oder anders gesagt: Mehr Geselligkeit denn Kirche. Ein geflügeltes Wort macht die Runde: "Adolph Kolping, schau hernieder, die Kolpingbrüder trinken wieder." Dass man Kinder und Jugendliche in den Verein schickt, zieht niemand ernsthaft in Erwägung.

Dann, 1986, übernimmt Jakob Kehrle den Vorstand. Mit ihm kommt die Wende. Nicht mehr die Gesellen stehen im Fokus der Vereinsarbeit, sondern Kinder, Jugendliche und Familien. "Wir sind ein angesehener Verein in unserer Stadt", sagt Karlheinz Hitzler, heutiger Vorsitzender. "Mit 151 Jahren Vereinsgeschichte im Rücken sind wir uns bewusst, dass diese eindrucksvolle Geschichte auch eine Verpflichtung für die kommende Zeit ist." Mag es seit der Gründung auch mehrere Aufs und Abs gegeben haben, die Grundidee Adolph Kolpings sei geblieben. "Jeder kann bei uns eintreten, jeder, der Verantwortung übernehmen will getreu den Idealen Kolpings." 302 Mitglieder sind aktuell dabei – vor gut 25 Jahren waren es noch 217. "Wir gehören zu den Kolpingsfamilien in unserem Diözesanverband, die eine stetig wachsende Mitgliederzahl vorweisen können", so Karlheinz. Und ja, das sei, da müsse man sich nichts vormachen, eine "Wahnsinnsarbeit".

Ulrike "Uli" Wurm, zweiter Vorstand, sagt, sie fände es besonders schwierig, die Familien ins Boot zu holen: "So ganz wissen wir auch nicht, woran das liegt, das würde mich schon interessieren, was wir anbieten müssen, damit da mehr kommen." Eine andere Frage sei, wie die Angebote zu machen seien und wie oft. Zwischen Dranbleiben und penetrant sein sei es nur ein schmaler Grat. "Da muss man schauen, wie man die Balance hält." Besonders die Jugendlichen würden sich heutzutage selten festlegen wollen. Einerseits gibt es 14-Jährige, die sich so schick wie möglich machen, manche sogar mit Krawatte, wenn sie das Banner tragen, und sie tragen es mit großem Stolz, andererseits sind manche einige Zeit dabei und lassen sich plötzlich nicht mehr blicken. Und es gibt auch solche, die, und das schon älteren Alters, zwar eintreten wollen, aber dann doch einen Rückzieher machen.

Karlheinz erinnert sich an ein Erlebnis beim Metzger, bei dem sich der folgende Dialog entsponnen habe: Du, ich möchte zu Kolping gehen – Warum? – Weil dann kaufst du weiter bei mir ein – Ich kaufe auch bei dir ein, wenn du nicht bei Kolping bist. – Was muss ich denn machen, wenn ich eintreten will? – Du musst auf die Fahne Treue schwören – Ne, das mache ich nicht. – Du musst ja nicht eintreten. – Dann kaufst du weiter bei mir ein? – Ja.

Die Abendsonne ist kurz vor ihrem Versinken. Roland überlegt, ob er sich ein zweites Bier holen soll. Franzi sagt, er solle es bloß nicht übertreiben. Roland droht lachend, dass Franzi bloß nicht frech werden soll. Franzi sagt, weißt doch, wie ich bin. Roland sagt, du willst doch sicher eine Rolle im nächsten Stück. Franzi antwortet, ich weiß doch, dass ich die sowieso kriege. Roland erwidert, du musst halt immer das letzte Wort behalten. Franzi sagt, wer sonst, wenn nicht ich. Die beiden grinsen sich an. Dann steht Roland auf und ist im nächsten Moment im Getränkekeller verschwunden.

Die Kolpingsfamilie Höchstädt hat 302 Mitglieder. Sie gehört zum Diözesanverband Augsburg. Dem Diözesanverband gehören insgesamt 105 Kolpingsfamilien an, in denen es 12.772 Mitglieder gibt.

Text: Sylvie-Sophie Schindler
Fotos: Kolpingsfamilie Höchstädt


Dieser Beitrag ist auch erschienen im Bildband "So sind wir! 27 Einblicke in Kolpingsfamilien vor Ort", 192 Seiten, Format: 19 x 25,5 cm, Artikel-Nr: 1027, Preis: 12,95 EUR.