Seit seiner Einführung im Januar 2015 hat der Mindestlohn für mehr als vier Millionen Erwerbstätige eine zum Teil deutliche Lohnerhöhung mit sich gebracht. Anfangs geäußerte Warnungen vor steigender Arbeitslosigkeit infolge einer gesetzlichen Lohnuntergrenze sind nicht eingetreten. Vielmehr hatte das allgemeine Beschäftigungsniveau kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie ein Rekordniveau erreicht.
Durch die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die bisherige Lohnuntergrenze bei vielen Beschäftigten selbst unter den Bedingungen einer Tätigkeit in Vollzeit nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt gänzlich zu bestreiten, weder mit Blick auf die Lebenshaltungskosten noch im Hinblick auf eine spätere Rente. Ein Lohn von 12 Euro entspricht aktuell etwa 60 Prozent des mittleren Einkommens. Dieser Wert gilt als notwendige Schwelle zur Abwendung von Armutsgefährdung.
Ein guter Mindestlohn ersetzt nicht die Tarifpartnerschaft
Eine gesetzlich festgelegte Lohnuntergrenze ist ein arbeitsmarktpolitisches Korrektiv. Sie wird erforderlich, wenn die Vergütung in bestimmten Branchen und Unternehmen zu niedrig ausfällt. Das beste Mittel dagegen ist langfristig jedoch eine breit angelegte Tarifbindung, wie sie lange Zeit zum Wesenskern der sozialen Marktwirtschaft gehörte. Diese ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark zurückgedrängt worden. Waren vor 20 Jahren noch drei von vier abhängig Beschäftigten im Rahmen eines Tarifvertrags tätig, ist es inzwischen nur noch jeder Zweite.
Der Grund: Viele Unternehmen haben sich aus der Tarifbindung zurückgezogen. Neu entstandene Unternehmen, unter anderem im Bereich der Digitalwirtschaft, haben sich der Einführung eines Tarifvertrags häufig entzogen. In der Folge profitieren Millionen von Beschäftigten nicht mehr von tariflich abgesicherten Arbeitsverhältnissen. Begleitet durch eine Politik der arbeitsmarktpolitischen Flexibilisierung ist damit in Deutschland einer der größten Niedriglohnsektoren Europas entstanden.
Vor diesem Hintergrund war die politische Entscheidung zur Festlegung eines deutlich höheren Mindestlohns zwar dringend erforderlich. Zur Stärkung der Tarifbindung bedarf es jedoch anderer Maßnahmen. So finden sich im Koalitionsvertrag der Bundesregierung Ansätze zur Einführung eines Bundestariftreuegesetzes. Damit würden Betriebe, die sich um öffentliche Aufträge des Bundes bewerben, dazu verpflichtet, ihre Beschäftigten zu branchenüblichen Tariflöhnen zu vergüten. Dies wäre ein erster Schritt, um dem Trend einer abnehmenden Tarifbindung entgegenzuwirken.
Lohnpolitik muss wieder Angelegenheit der Sozialpartner werden
Die im Bundestag getroffene Entscheidung zur Erhöhung des Mindestlohns dient einer Stärkung des Gemeinwohls und ist daher politisch wohl begründet. Nach Berechnungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales profitieren von der aktuellen Steigerung mehr als sechs Millionen Beschäftigte.
Gleichwohl darf die Tarifpartnerschaft als bewährtes Instrument der Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland nicht ausgehöhlt werden. Lohnpolitik sollte nicht von politischer Seite gesteuert werden, sondern dem Zusammenspiel der Sozialpartner – Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite – überlassen sein. In Zukunft muss dies auch wieder für die jährliche Erhöhung des Mindestlohns gelten. Damit die vom Gesetzgeber eingerichtete Mindestlohnkommission, die sich aus Vertreter:innen der Sozialpartner zusammensetzt und die (halb)jährliche Anpassung der Mindestlöhne festlegt, diesen Auftrag vollumfänglich erfüllen kann, braucht es eine Überarbeitung ihrer Bewertungskriterien. Bislang wird vorrangig die Entwicklung der Tariflöhne zugrunde gelegt. Weitere Kriterien – unter anderem steigende Lebenshaltungskosten und die Entwicklung der Produktivität – werden nicht ausreichend berücksichtigt.
Das Kolpingwerk schlägt daher eine Erweiterung der Bewertungskriterien im Mindestlohngesetz vor. Dies deckt sich auch mit den Vorschlägen zur geplanten Mindestlohnrichtlinie der Europäischen Union, die einen gemeinsamen Referenzrahmen für europaweit geltende Mindestlöhne vorsieht. Neben der Lohnentwicklung sollen jeweils auch die Entwicklung von Lebenshaltungskosten und die Steigerungsraten der allgemeinen Produktivität in den Mitgliedsstaaten Berücksichtigung finden.
Der Bundesvorstand des Kolpingwerkes Deutschland
Köln, 27. August 2022